Sexismus

Zwei Geschlechter, ein Sexismus?

Kritische Gedanken zur Norm der Zweigeschlechtigkeit

Wir leben in einer Gesellschaft, in der jede*r so sein kann, wie er*sie will. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Sexismus und Zweigeschlechtigkeit allgegenwärtig sind. Diese zwei einleitenden Sätze schließen sich nur scheinbar aus. Während die erste Phrase zugleich richtig und falsch ist, dürfte die zweite These – zumindest unter linken Menschen – auf wenig Zweifel stoßen. Dieser Text geht folgenden Fragen nach: inwiefern ist persönliche Freiheit – im Zusammenhang mit sexueller Selbstverortung – oft nur schön-schnöde Theorie? Inwieweit sind Zweigeschlechtigkeit und Sexismus Seiten derselben Medaille? Was hat Sexismus mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben?

 

Zu den Begriffen

Während es in der deutschen Sprache mit ‚Geschlecht‘ nur ein geläufiges Wort gibt, um Debatten wie die hier angesprochene zu führen, existieren im englischsprachigen Raum zwei Begriffe: sex und gender. Während sex das biologische Geschlecht meint, geht es gender um das sogenannte soziale Geschlecht, um Verhaltensweisen und Charakteristika, die in einem bestimmten Umfeld mit ‚männlich‘ bzw. ‚weiblich‘ verknüpft werden. Sex lässt sich an den äußeren Geschlechtsmerkmalen einer Person ablesen (hat jemand einen Penis, eine Vagina oder sogar beides?). Das soziale Geschlecht – gender – unterliegt hingegen grundsätzlich gesellschaftlichen Debatten, kann sich also im Zeitverlauf ändern und wird von den Menschen mitgeprägt. Teile der Gender Studies beschäftigen sich mit der Frage, was Menschen tun, um ihren eigenen bzw. sozial anerkannten Vorstellungen von ‚weiblichem‘ oder ‚männlichem‘ Geschlecht – im Sinne von gender – zu genügen. Der diesbezügliche Ansatz heißt doing gender. Er stellt darauf ab, dass Geschlecht von den Betroffenen selbst reproduziert wird.

Zweigeschlechtigkeit ist ein Wort, welches – im Großen und Ganzen – für rechte und linke Menschen zwei ganz unterschiedliche Bedeutungen hat. Rechte halten Zweigeschlechtigkeit tendenziell für natürlich, nützlich, gut und mitunter gottgewollt – jüngstes Beispiel ist die gegen den ‚Gender-Wahn‘ wetternde AfD. Für die meisten Linken ist Zweigeschlechtigkeit ein Konstrukt – da Geschlecht eben nie bloß sex, sondern immer auch gender ist. Linke kritisieren die Vorstellung, es gäbe nur zwei Geschlechter – ein männliches und ein weibliches – und dazwischen wenig bis nichts. Da Geschlechter auch gemacht werden – so die Linke –, muss auch Zweigeschlechtigkeit etwas von Menschen (re-)produziertes (und somit veränderbar) sein.

Seit 2013 müssen Eltern neugeborene Kinder nicht mehr als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ klassifizieren, wenn das biologische Geschlecht unklar ist (3). Zweigeschlechtigkeit wird somit gelockert, wenn auch nicht aufgehoben: Kindergärten und Schulen bieten in fast allen Fällen weiterhin eine Jungen- und eine Mädchentoilette an. Sie setzen das Entweder-oder fort und prägen so die Vorstellungswelt ihrer kleinen Besucher*innen. Das Personenstandsregister der Bundesrepublik Deutschland kennt – bei biologischer Eindeutigkeit – nur zwei Geschlechter: Empfehlungen des Deutschen Ethikrates, unter „Geschlecht“ auch „anderes“ eintragen zu dürfen, wurden bislang noch nicht rechtlich umgesetzt. Somit sind auch erwachsene Menschen weiterhin gezwungen, sich – offiziell – einem von zwei Geschlechtern zuzuordnen. Wer sich weder eindeutig als ‚Mann‘ oder ‚Frau‘ definieren kann oder möchte, hat also das Nachsehen.

Was ist Sexismus? In der wissenschaftlichen Fachliteratur wird mensch mehr als nur eine Definition finden. Sämtliche Definitionen wiederzugeben und gegeneinander aufzuwiegen würde den Rahmen gleich mehrerer Artikel sprengen. Dieser Text greift auf folgende (Arbeits-)Definition zurück: sexistisch ist ein Verhalten, ein Programm oder eine Politik dann, wenn sie Menschen aufgrund ihres biologischen und/oder ihres sozialen Geschlechts benachteiligt. Wer andere sexistisch ausgrenzt – so viel ist jetzt schon klar –, muss also bestimmte Vorstellungen von ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ haben und er*sie muss bereit sein, andere auf ihr ‚Mann-‘, ‚Frau-‘ oder auch Ganz-anders-Sein zu reduzieren. Ausgrenzung kann offen oder versteckt, direkt oder auch indirekt erfolgen. Wir werden weiter unten darauf zurückkommen.

 

Ich will, was andere wollen

Wir leben in einer Gesellschaft, in der – bezogen auf die eigene Performance – jede*r mehr oder weniger tun und lassen kann, was er*sie will. Wir können in einer blauen Hose auf die Straße treten oder in einer pinkfarbenen, können die Haare lang oder kurz tragen, uns mit verrückten oder spießigen Accessoires schmücken oder gänzlich auf Schmuck, Sneakers oder Stiefelletten verzichten. Doch wir tun es nicht. Wie wir uns kleiden, wie wir auftreten, was wir für akzeptabel halten oder nicht ist das Ergebnis komplexer Prozesse, in denen Geschlechterfragen jedoch immer eine wichtige Rolle spielen. Warum gibt es deutlich mehr (biologische) Männer als (biologische) Frauen, die Steroide schlucken, besoffen durch die Altstadt pöbeln und sich für Autos interessieren? Warum leiden – statistisch betrachtet – (biologische) Frauen häufiger an Magersucht und Bulimie? (1) Zuschreibungen und Erwartungshaltungen, die auf dem biologischen Geschlecht basieren, kann sich kaum jemand entziehen. Für die persönliche Freiheit der Einzelnen problematisch ist die Gleichsetzung von gender und sex – die Annahme, ein Mensch mit einem Penis müsse sich auch in seiner Performance als ‚männlich‘ inszenieren, ist (noch immer) weit verbreitet. Nur vergleichsweise wenige Menschen reflektieren die Erwartungshaltungen, die an ihr soziales und/oder biologisches Geschlecht gestellt werden. Noch weniger Menschen gelingt es, sich dauerhaft diesen Erwartungshaltungen zu widersetzen. Zweigeschlechtigkeit ist noch immer der Maßstab vieler Menschen. Wenn Zweigeschlechtigkeit aber Erwartungsdruck produziert und uns auf ‚Mann‘ oder ‚Frau‘ reduzieren möchte, warum gibt es sie dann noch?

 

Wem nützt Zweigeschlechtigkeit?

Menschen, die sich dem Regime der Zweigeschlechtigkeit unterworfen haben, reagieren oft verunsichert und ärgerlich, wenn andere dies nicht tun. Um dem eigenen Leben Leitplanken zu geben, sind viele bereit, sich an Klischees auszurichten. Sie sind nicht mutig und selbstbewusst genug, um sich selbst über das Klischee hinaus zu entwerfen. Es erscheint logisch, dass der Unsichere den Sicheren und der Unfreie den Freien hasst. Dieser Hass hat viel mit Neid zu tun. Zweigeschlechtigkeit gibt Menschen Orientierung, die sich ansonsten überfordert fühlen würden. Es gibt jedoch auch Menschen, die ganz glücklich mit der zweigeschlechtlichen Ordnung sind, weil sie – tatsächlich oder vermeintlich – das Gefühl haben, in dieser Ordnung ganz oben zu stehen. Dies trifft eher auf biologische Männer zu, die – gesamtgesellschaftlich – noch immer privilegiert sind. Diese Männer haben kein Interesse daran, dass ihr Status gefährdet wird. Sie fühlen sich von (biologischen) Frauen und ‚femininen‘ Männern bedroht und grenzen sowohl die einen wie auch die anderen sexistisch aus – zum Beispiel mit sogenannten Herrenwitzen oder homophoben Äußerungen. In härteren Fällen kommt es zu Vergewaltigungen und anderen Formen sexualisierter Gewalt, von der fast ausschließlich biologische Frauen betroffen sind. Biologische Männer sind auch insofern privilegiert, als dass sie bestimmte Probleme erst gar nicht kennenlernen: Frauen müssen sich hingegen angrapschen und anquatschen lassen oder werden anderweitig sexuell belästigt – in der EU sind zwischen 45 und 55% aller über 15-jährigen Frauen bereits Opfer von sexuellen Belästigungen geworden (4). Manchmal gelten für biologische Frauen und Männer sogar verschiedene rechtliche Regelungen: letztere dürfen mit freiem Oberkörper herumlaufen, erstere nicht.

In kaum einem Bereich begegnet uns Sexismus so häufig wie in der kommerziellen Werbung. Unzählige Werbespots reduzieren (biologische) Frauen auf ihr Äußeres und tun so, als wären diese in erster Linie verfügbare Sex-Objekte. Sexistische Werbung ist so allgegenwärtig, dass es mittlerweile sogar einen Wettbewerb gibt, der die schlimmste Reklame mit dem Zornigen Kaktus auszeichnet (2). Es ist kein Zufall, dass Sexismus ausgerechnet in der Werbung anzutreffen ist. Wer etwas verkaufen will, benötigt möglichst klar konturierte Zielgruppen. Je mehr Menschen es gibt, die sich eindeutig als ‚Mann‘ oder ‚Frau‘ (mit den jeweils angeblich typischen Eigenschaften) sehen, desto leichter ist es, Produkte zu verkaufen, die das jeweilige ‚Mann-‘ bzw. ‚Frausein‘ verstärken und fördern. Die Produkte selbst gelten dann als typisch ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ und werden von Menschen erworben, die sich ‚männlicher‘ oder ‚weiblicher‘ fühlen möchten, um ihr schwaches Selbstbewusstsein (vermeintlich) zu stärken. Es gibt aber noch einen zweiten, relativ einfachen Grund, warum Werbung so oft sexistisch ist: sie wird von heterosexuellen, privilegierten Männern gemacht. Diese Männer bilden Frauen so ab, dass sie keine Konkurrenz für sie darstellen: ohne Kopf, ohne Gesicht, ohne Gedanken, dafür aber mit vielen Kurven (2).

Wir leben in einer Gesellschaft, die vielen Menschen keinen ansprechenden Arbeitsplatz zur Verfügung stellt. Unzählige Menschen reiben sich im kapitalistischen Konkurrenzkampf auf und trauen sich nur noch in Selbsthilfegruppen, über Gefühle und Ängste zu sprechen. Anstatt die Verhältnisse zu kritisieren, suchen viele die Schuld bei sich selbst. Die Unsicherheit und der Identitätsverlust vieler Menschen sind mit Händen zu greifen. Für viele besteht eine vermeintliche Lösung darin, sich über ihr Geschlecht zu definieren: wenn mensch schon keinen tollen Arbeitsplatz und auch nicht das dickste Konto hat, dann ist mensch wenigstens attraktiv. Als gutaussehend wird eher wahrgenommen, wer den gängigen Schönheitsidealen entspricht – und diese sind wiederum (größtenteils) ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ definiert. Zweigeschlechtigkeit und Rollenklischees stellen also für viele Menschen eine (wenn auch problematische) Lösung dar.

 

Sexismus und Gesellschaft

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Sexismus seinen festen Platz hat. Wie könnte eine antisexistische Gesellschaft aussehen? Zunächst ist festzuhalten, dass Zweigeschlechtigkeit und Sexismus zwar bestimmten Menschen nutzen, es aber dennoch keinen fest umrissenen Masterplan gibt, der sexistisches und zweigeschlechtliches Denken reproduziert. Stattdessen helfen wir alle – durch mangelnde Reflexion und angelernte Routinen – Klischees wahr werden zu lassen. Wir legen nicht nur an uns selbst Maßstäbe an, die uns eigentlich bedrücken – wir betrachten auch andere durch die sexistische und zweigeschlechtliche Brille. Dennoch gibt es gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Rollenbilder von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ begünstigen. Ältere Gesellschaften – etwa die feudalistische – waren von klaren Herrschaftsverhältnissen geprägt. Kaiser, Könige und Fürsten brauchten treue Untertanen, um ihren Wohlstand und ihren Einfluss zu erhalten bzw. zu mehren. Es waren körperlich starke Männer vonnöten, die – stellvertretend für ‚ihren‘ Fürsten – im Krieg die Knochen hinhielten. Gebärfreudige und aufopferungsvoll arbeitende Frauen sorgten dafür, dass die ‚Reproduktion‘ von Untertanen nicht ins Stocken geriet.

Im globalisierten Kapitalismus der sogenannten Sachzwänge ist Herrschaft heute – zumindest in den demokratischen Regionen – eher abstrakt. Neben der eigenen Arbeitskraft stellt Attraktivität jedoch – v. a. in Berufen, die mit Kundenbeziehungen und Dienstleistungen zu tun haben – eine wichtige Ressource für die Angestellten dar. In einigen Berufsfeldern lässt sich sogar sagen: ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ konnotierte Attraktivität ist Teil der Arbeitskraft. Schönheit wird – v. a. gegenüber Frauen – erwartet. Es gibt noch eine zweite Brücke zwischen Arbeitswelt und Sexismus. Viele Männer, die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben bzw. ganz ausgegrenzt sind, äußern sich sexistisch über Frauen. Ihr Ziel ist es, ihren brüchigen Selbstwert wenigstens auf Kosten der Frauen aufzuhübschen. Das soll natürlich nicht heißen, dass besserverdienende Männer immun gegen Sexismus sind – im Gegenteil. Wer sich in seiner Identität insgesamt bedroht fühlt, hat meistens mehr Grund, nach ‚Unteren‘ zu suchen, auf die er*sie hinabschauen kann.

Sexismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dessen Ursachen vielfältig sind. Sexismus ist nur möglich, wo es starre Erwartungen mit Blick auf (zwei idealtypische) Geschlechter gibt. Nicht jede*r erlebt Sexismus auf die gleiche Weise. Mit Hilfe unserer Mensch-Kampagne wollen wir sexistische Praktiken problematisieren. Vielleicht fällt auch euch ein persönliches Erlebnis ein, mit dem ihr diese Website bereichern möchtet? Denn bei allem, was schiefläuft, sollten wir nicht vergessen:

Wir leben in einer Gesellschaft, die veränderbar ist.

 

(1) http://www.bzga-essstoerungen.de/index.php?id=44 (aufgerufen am 8. September 2016)

(2) https://www.frauenrechte.de/online/index.php/themen-und-aktionen/frauenfeindliche-werbung/der-zornige-kaktus-2015 (aufgerufen am 8. September 2016)

(3) http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/gesetzesaenderung-geschlecht-von-neugeborenen-darf-offen-bleiben/9012854.html (aufgerufen am 2. Oktober 2016)

(4) http://www.taz.de/!5047159/ (aufgerufen am 2. Oktober 2016)