Armut

Im kapitalistischen Reich der Schatten

Zur Konstruktion des ‚asozialen‘ Armen in der Marktgesellschaft

In den vergangenen Jahren ist der Kapitalismus immer extremer geworden. Eine völlig entgrenzte Leistungsideologie weitet die Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft aus. Plötzlich ist alles Markt und Wettbewerb. Doch wo es Gewinnende gibt, erleiden andere Niederlagen. Das Privatfernsehen schiebt den Verlierenden die Schuld für ihr vermeintliches Versagen in die Schuhe. Scripted Reality konstruiert den ‚asozialen‘ Armen, den die Leistungsbereiten brauchen, um sich nach ‚unten‘ abzugrenzen.

 

Hintergrund: Marktgesellschaft

„Spätestens seit der neoliberalen Wende in der Sozial- und Wirtschaftspolitik in den frühen 1990er-Jahren durchzieht die mehr oder minder explizite Bemessung der Gesellschaft nach den Prinzipien des Marktes alle Bereiche der Gesellschaft, auch jene, die vormals nicht nach Profiten und Gewinnen beurteilt wurden.“ (1) Mit diesem Satz beschreiben Andreas Hövermann, Andreas Zick und Eva Groß den sozialen Zusammenhang, in dem sich „Wut, Verachtung, Abwertung“ (Buchtitel) zunehmend auch gegen Menschen richten, die als leistungsschwach eingeschätzt werden. Die Autor*innen spielen auf die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften seit den 1980er-Jahren an. Damals stießen Ronald Reagan und Margaret Thatcher in den USA bzw. Großbritannien Reformen an, die insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen erhebliche Einschnitte bedeuteten. In den 1990er- und 2000er-Jahren nahmen sich auch mittelinke Regierungen ein Vorbild an Thatcher und Reagan, indem sie Sozialleistungen kürzten und versuchten, mehr Wettbewerb durchzusetzen. Obwohl die diese ultrakapitalistische Ideenwelt u. a. in die Finanzkrise des Jahres 2008 einmündete, etablierte sich eine „Marktgesellschaft“ (Heitmeyer), deren Mitglieder sich und andere unter dem Gesichtspunkt der Markttauglichkeit beurteilen (2). Anerkannt ist hingegen derjenige, die*der sich auf den diversen Märkten (Arbeits-, Wohnungs- und Liebesmarkt) behaupten kann. Der Soziologe Ulrich Bröckling sprach von einem „unternehmerischen Selbst“: Menschen begännen, sich selbst als kleine Unternehmen zu sehen, die sich unter maximalem Einsatz ein Höchstmaß an persönlichem Kapital aneigneten, um dieses wiederum gewinnbringend in beruflichen und – daran gekoppelt – persönlichen Erfolg umzusetzen (3). In den Jahren 2012/13 diskutierte die deutsche Öffentlichkeit anstelle der Finanz- die Eurokrise. Es entstand das Bild des fleißigen Deutschen, dem der angeblich faule Grieche auf der Tasche liege.

 

Der Schatten des Leistungsmenschen

Dem von den ultrakapitalistischen Vordenker*innen geforderten und geförderten Leistungsmenschen folgte – wie ein Schatten – der*die vermeintliche Versager*in: Menschen, die an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wurden, beispielsweise weil ihre Qualifikationen durch Strukturwandel in der Arbeitswelt (z. B. die Digitalisierung) abgewertet bzw. entwertet wurden. Heinz Bude lieferte in seinem Buch Die Ausgeschlossenen Beispiele für Menschen, auf die der Arbeitsmarkt nicht mehr zurückgriff (4). Mit Das Elend der Welt legte Pierre Bourdieu einen Sammelband vor, der sich ebenfalls den individuellen Schicksalen der Benachteiligten widmete (5). Die Bände beweisen, wie vielfältig Abwärtsspiralen verlaufen können und wie wenig schuld die Betroffenen oftmals sind. Zeitgleich setzten sich im Privatfernsehen Scripted Reality-Formate durch, die ein anderes Bild zeichneten: Arbeitslose, Geringverdienende und sogenannte ‚Bildungsferne‘ wurden als unbeherrscht, verantwortungslos und faul gezeichnet. Phasenweise liefen mehr als 60 Folgen dieser Art im deutschen Fernsehen – wöchentlich (6). Die von RTL und Co. Bloßgestellten lieferten das Gegenbild einer zwar ehrgeizigen, jedoch den sozialen Abstieg fürchtenden Mittelschicht, die in Krisenzeiten – v. a. in Deutschland – immer eher nach unten denn nach oben tritt. Der ultrakapitalistische Leistungsmensch hatte plötzlich einen Schatten: pöbelnde, fluchende und antriebslose Laienschauspieler*innen. Die Präsenz eines Prekariats verstärkte die Unsicherheit der Mittelschicht, die sich umso stärker nach ‚unten‘ abgrenzte.

 

Drinnen-gegen-Draußen statt Oben-gegen-Unten?

In den Jahren 2014/15 entstanden in Deutschland mehrere außerparlamentarische Protestbewegungen, die sich gegen das Schreckgespenst des Salafismus (HoGeSa) bzw. gegen eine angebliche Islamisierung des „Abendlandes“ richteten (Pegida). Mit dem parteipolitischen Rückenwind der selbst ernannten ‚Alternative für Deutschland‘ (AfD) entwickelte sich der öffentliche Raum zum Schauplatz einer verrohten Debattenkultur. Brandanschläge auf Asylsuchenden-Unterkünfte, Patronenhülsen in den Briefkästen von Bundestagsabgeordneten, Droh- und Hasstiraden online wie offline: aus der Mittel-/Oberschicht-gegen-Prekariat-Kluft der Vorjahre entwickelte sich die Trennlinie ‚Drinnen‘ gegen ‚Draußen‘. Der rechte Protest projizierte das Verächtlichmachen von sozial Benachteiligten zunehmend auf die Geflüchteten, diese als Sozialschmarotzer*innen brandmarkend, die es auf den Wohlfahrtsstaat abgesehen hätten. 2015 verursachte der syrische Bürgerkrieg eine Fluchtbewegung großen Ausmaßes. Die Geflüchteten-Situation erreichte im Herbst 2015 ihren vorläufigen Höhepunkt. Deutschland nahm mehrere 100.000 Menschen auf, die vor den grauenhaften Zuständen in ihrem Heimatland geflohen waren. Die Kölner Silvesternacht 2015/16 verdüsterte abermals das gesellschaftliche Klima – einzelne Geflüchtete hatten Frauen sexuell belästigt. Die Fußballeuropameisterschaft der Männer im Sommer 2016 tat ihr Übriges: tatsächlich benachteiligte Deutsche bzw. jene, welche den sozialen Abstieg fürchteten, identifizierten sich erneut nachdrücklich mit ‚ihrem‘ Land. Sie konzentrierten ihren Hass nun auf die Geflüchteten. Die Verabscheuung der angeblichen Arbeitsunwilligen vermengte sich mit Überfremdungsängsten und Rassismus. Geflüchtete werden nicht nur als Anhänger*innen ‚des‘ Islam abgelehnt, sondern auch, weil viele Inländer*innen sie für leistungsschwach halten.

 

Keine Solidarität, nirgends?

Dem Hass trotzend entschieden sich mehrere Tausend Menschen in Deutschland, den Geflüchteten zu helfen. Von der politischen Rechten als ‚Gutmenschen‘ verhöhnt, organisierten sie neben praktischer Hilfe Solidaritätsveranstaltungen zugunsten der Zugewanderten. Immer wieder gerieten auch Helfer*innen ins Visier gewaltbereiter Rechter. Der Rechts-Links-Gegensatz – von einigen Beobachter*innen (z. B. Armin Nassehi) vorschnell und fälschlicherweise ad acta gelegt – erlebte ein eindrucksvolles Comeback (7). Von einer vollständig entsolidarisierten Gesellschaft zu sprechen, wäre also nicht korrekt. Dennoch verdeutlicht der Aufwind der AfD: Gegen ‚die Politik‘ gerichteter Protest – auch von sozial Benachteiligten – artikuliert sich derzeit in seiner rechten, sprich: ausschließenden Form. Die AfD, die in den Jahren 2015/16 von einem Landtagswahlerfolg zum nächsten eilte, mag ultrakapitalistische Vorstellungen vertreten. Gewählt wird sie trotzdem – auch und gerade von denjenigen, die wirtschaftlich benachteiligt sind (8). Ganz offensichtlich fühlen sich viele ärmere Menschen von den linken bzw. mittelinken Parteien nicht mehr vertreten. Sie verorten sich eher mit Hilfe ihrer Herkunft denn unter Bezugnahme auf ihre ökonomische Position. Wer einen differenzierten Blick auf soziale Benachteiligung in Deutschland werfen möchte, sollte diesen Fakt miteinkalkulieren.

Für die politische Linke geht es in den nächsten Jahren darum, die rechte Deutsche-gegen-Geflüchtete-Propaganda zurückzuweisen, ohne die Ängste vieler Menschen zu unterschätzen bzw. sofort für rassistisch zu erklären. Generell gilt: nicht jede*r, der*die sich fürchtet, ist rassistisch, aber fast alle Rassist*innen schüren die Furcht (vor Geflüchteten). Die Linke muss versuchen, die krasse Ungleichheit in Deutschland und anderen Staaten ins Bewusstsein zu rufen. Gleichzeitig muss sie vermeiden, dass aus der Oben-Unten- eine Drinnen-Draußen-Debatte wird. Die Linke muss sich allen Benachteiligten als unterstützende Kraft gegen jene anbieten, die das Gemeinwesen seit den 1980er-Jahren systematisch zerstören: gemeint sind die Verfechter*innen des Kapitalismus, der jene (Existenz-)Angst hervorruft, die sich in Krisenzeiten gegen sozial Benachteiligte (mit und ohne Migrationsgeschichte) entlädt. Wer dem Morgenrot entgegen gehen möchte, muss das Reich der Schatten verlassen.

[Marktgesellschaft, die]:
Eine Gesellschaft, in der sich die Menschen ständig auf verschiedenen Märkten gegen andere behaupten müssen. In einer Marktgesellschaft geht es immer darum, wer mehr kann, mehr weiß, besser aussieht, sich besser durchsetzen kann usw.

[Leistungsideologie, die]: Ideologien sind von Menschen entwickelte Gedankengebäude, die die Gesellschaft erklären wollen und/oder vorgeben, dies zu können. Ideologien werden oft genutzt, um Herrschaftsverhältnisse zwischen Menschen und Ungleichheit zu rechtfertigen. Ideologien spiegeln oft die Interessen derer wider, die sie sich ausgedacht haben bzw. die sie vertreten. Reiche vertreten oft Leistungsideologien, indem sie z. B. sagen: „Wer reich ist, hat halt mehr geleistet als andere und verdient seinen Reichtum deshalb.“

[Marktwirtschaft, die]: Ein Wirtschaftssystem, das einen freien Austausch von Produkten und Dienstleistungen ermöglicht. Diejenigen, die etwas verkaufen wollen, konkurrieren mit anderen, die das gleiche Produkt anbieten – das gilt auch für Arbeitende, die ihre Arbeitskraft ‚zu Markte tragen‘. Die möglichen Verkaufenden und Kaufenden begegnen sich auf einem (fiktiven) Markt.

[Scripted Reality, die]: Fernsehsendungen, welche die angebliche ‚Realität‘ zeigen, jedoch auf vorgefertigte Drehbücher zurückgreifen. Das Problem bei Scripted-Reality-Formaten ist, dass sie oft echt wirken und die Menschen, die vorm Fernseher sitzen, stark beeinflussen können.

[Leistungsmenschen, die]: Personen, die sich vor allem über das, was sie leisten, definieren. Leistungsmenschen hängen oft einer Leistungsideologie an und neigen dazu, Menschen abzuwerten, die sie als leistungsschwach einschätzen.

[Liebesmarkt, der]:
Ein fiktiver Markt, auf dem sich Menschen begegnen, die nach Partner*innen und romantischen Liebesbeziehungen suchen. Wie auf allen Märkten geht es darum, Konkurrent*innen hinter sich zu lassen.

[Prekariat, das]: eine Gruppierung von Menschen, deren Arbeitsverhältnisse unsicher sind und die deshalb arm oder von Armut bedroht sind.

 

(1) Hövermann, Andreas et al. (2015). „Sozialschmarotzer“ – der marktförmige Extremismus der Rechtspopulisten. In: Zick, Andreas/Küpper, Beate (2015). Wut, Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland, Bonn: Verlag J. H. W. Dietz Nachf.

(2) http://www.deutschlandradiokultur.de/konfliktforscher-sieht-in-gesellschaftlicher-ungleichheit.954.de.html?dram:article_id=145706 (aufgerufen am 8. September 2016)

(3) Bröckling, Ulrich (2007). Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Berlin: Suhrkamp.

(4) Bude, Heinz (2008). Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. München: Carl Hanser Verlag.

(5) Bourdieu, Pierre (2009). Das Elend der Welt. Stuttgart: utb.

(6) http://www.spiegel.de/spiegel/a-656022.html (aufgerufen am 8. September 2016)

(7) Nassehi, Armin (2015). Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Hamburg: Murmann Publishers GmbH.

(8) http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-03/afd-analyse-erfolg-landtagswahlen-partei-waehler (aufgerufen am 8. September 2016)