Religion & Terrorismus

Gedanken zu Kapitalismus, Religion und nichtrassistischer Religionskritik

Eine Diskussionsgrundlage der Essener Falken

Am 22. März 2016 erschütterte ein haarsträubender Terroranschlag die belgische Hauptstadt Brüssel. Bei zwei Selbstmordattentaten, die von Anhängern des sogenannten Islamischen Staats (IS) verübt wurden, kamen 35 Menschen ums Leben. Mehrere hundert weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt.

Noch am selben Tag postete die „Junge Alternative“ (JA) – Jugendorganisation der selbsternannten „Alternative für Deutschland“ (AfD) – ein Bild, welches einen vermummten Terroristen zeigte. Eine dem Bild beigefügte Pressemitteilung enthielt die folgende Forderung: „Der Terror kommt zur Wurzel zurück – AfD-Jugendorganisation fordert ein Verbot islamischer Migration nach Europa“ (1). Sven Tritschler – Vorsitzender der JA – räumte zwar ein, nicht jeder Muslim sei ein Terrorist. Gleichzeitig möchte die AfD-Jugend jeden einreisewilligen Muslim, der nicht aus dem Schengen-Raum kommt, als potenzielle Gefahrenquelle abweisen.

Am 23. April 2016 äußerte sich die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor in einem Zeitungsinterview zum Thema Salafismus (2). Ausgangspunkt war der offenbar salafistisch motivierte Anschlag zweier Jugendlicher auf den Tempel der Essener Sikh-Gemeinde. Kaddor wies auf das für viele Jugendliche attraktive Schwarz-Weiß-Schema des Salafismus hin. Das Freund-Feind-Prinzip erlaube es den jungen Menschen, sich selbst auf der Seite der „Guten“ zu wähnen. Häufig bedinge auch ein Protest gegen das eigene Elternhaus die Sympathie für den Salafismus. Viele Jugendliche reagierten auch auf den alltäglichen Rassismus, der in der Gesellschaft als Ganzer anzutreffen sei. Salafismus sei somit auch eine Art Trotzhaltung.

Angesichts dieser unübersichtlichen Gemengelage stellen sich mehrere Fragen. Wie gehen wir als Essener Falken einerseits mit rassistischer Religionskritik, andererseits mit dem Salafismus um? Wie stehen wir generell zu Religion? Was hat Religion mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben? Gibt es eigentlich Berührungspunkte zwischen unserer sozialistischen Einstellung und bestimmten religiösen Ideen? Inwieweit ist eine nichtrassistische Religionskritik möglich und nötig?

Dieser Artikel entstand im Rahmen der „Mensch“-Kampagne der Essener Falken. Die Kampagne dient der Auseinandersetzung mit Vorurteilen, die in unserer Gesellschaft stets präsent sind und die immer auch eine politische Rolle spielen. Dieser Aufsatz versteht sich als Statement und als Diskussionsgrundlage zugleich. Da wir ein sehr vielfältiger Falken-Kreisverband sind, kann und muss nicht jede*r jedem einzelnen Satz zustimmen, der im Folgenden geäußert wird. Dennoch hoffen wir, mit unserer „Mensch“-Kampagne wichtige Denkanstöße zu geben. Die folgenden sechs Absätze wünschen, die Diskussion voranzubringen.

 

Rassistische „Religionskritik“ bekämpfen!

Die oben dargestellte Forderung der AfD-Jugend ist unter politisch Rechten nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Der Wunsch nach einem kompletten Einreiseverbot für Muslime, die nicht aus dem Schengen-Raum stammen, zeigt, was die politisch Rechte aus den Themenfeldern IS und Salafismus macht. Parteien wie der AfD geht es darum, über den Hebel IS/Dschihadismus/Salafismus rassistische Denkmuster in der Bevölkerung zu verstärken und zu streuen. Verschiedene rechte Gruppierungen versuchen, die Gesellschaft sowohl in der Tiefe als auch in der Breite rassistischer zu machen: Menschen, die bereits rassistisch eingestellt sind, sollen ihre derartigen Einstellungen intensivieren. Menschen, die noch nicht rassistisch sind, sollen es werden. AfD, Pegida, HoGeSa und Co. benötigen den angeblich grundsätzlich gewaltbereiten Islam, um ihr eigenes völkisches und nationalistisches Profil zu schärfen. Die Rechte nutzt dabei nicht nur „den“ Islam für ihre Zwecke, sondern auch die realen Opfer des Dschihadismus bzw. des Salafismus. Ziel vieler Rechter ist eine ethnisch gleichförmige Gesellschaft, in der sich alle Menschen zu einer – von der Rechten vorgegebenen – „deutschen Leitkultur“ bekennen. Große Teile der AfD kämpfen dabei nicht nur gegen die „Fremden“, sondern auch gegen die Gegner*innen der nationalistischen Einheitsgesellschaft, sprich: politisch Linke – viele derjenigen, die bei Pegida, HoGeSa usw. mitmarschieren, sind nicht nur rassistisch, sondern auch sexistisch. Sie haben ein Problem mit Männern, die sich nicht wie „echte Männer“ (aktiv, streitlustig usw.) verhalten und auch mit Frauen, die nicht dem weiblichen Stereotyp (passiv, aufopferungsvoll usw.) entsprechen. In Pegida- und AfD-Kreisen finden sich auch viele Menschen, die Lesben, Schwule und Transgender-Menschen hassen.

 

Salafismus ernstnehmen

AfD, Pegida und HoGeSa sind weder untereinander, noch mit dem Salafismus gleichzusetzen. Bei einer Pegida-Demonstration gegen Salafist*innen lässt sich trotzdem sagen: hier schreien Rechte gegen Rechte. Denn sowohl große Teile der deutschen Rechten als auch die Salafist*innen gruppieren ihr politisches Denken um die Vorstellung der Ungleichheit. Die Ungleichheit wird dabei nationalistisch oder religiös gerechtfertigt. Pegida, HoGeSa und Co. wollen „Deutsche“ vor „Ausländern“ bevorzugen und setzen sich entschieden für „deutsche“ Interessen ein – die Interessen der „Anderen“ sind angeblich nicht so wichtig. Salafist*innen glauben, sie seien durch ihren Glauben an Allah mehr wert als alle „Ungläubigen“, die aus ihrer Sicht bekämpft werden müssen. Das Gefühl, „Ungläubigen“ überlegen zu sein, teilen konservative und dschihadistische Salafist*innen. Auch gehen beide Strömungen davon aus, dass Männer mehr zu sagen hätten als Frauen. Die oben erwähnte Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor vergleicht salafistische Gruppen mit Sekten. Ihre Mitglieder könnten nicht mehr klar denken und würden von den jeweiligen Anführern zu terroristischen Taten verführt. Träten Jugendliche in eine salafistische Gruppe ein, verändere sich ihr Wesen oft deutlich. Auch wenn der Salafismus in Deutschland zahlenmäßig ein eher kleines Problem sein mag, ist er ernst zu nehmen. Lamya Kaddor betont übrigens, dass nicht nur junge Menschen mit muslimischem Hintergrund von den Salafist*innen angesprochen werden. Die salafistische Propaganda kann auch Leute treffen, die vorher nichts mit Religion zu tun hatten. Jede*r Jugendliche*r, die*der dem Salafismus verfällt, ist eine*r zu viel. Wir Falken müssen uns zumindest mit den Grundzügen des Salafismus auseinandersetzen, um die von ihm ausgehenden Gefahren richtig einschätzen zu können. Nur so können wir gegensteuern, wenn wir merken, dass sich Jugendliche auf diese Strömung einlassen. Als Kinder- und Jugendverband fühlen wir uns auch für jene jungen Menschen verantwortlich, die einen aus unserer Sicht falschen Weg eingeschlagen haben.

 

„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“

Diese sogenannte Gretchen-Frage stammt aus Johann Wolfgang von Goethes Buch Faust. Heute sprechen wir immer dann von einer Gretchen-Frage, wenn jemand in einem wichtigen Punkt Farbe bekennen soll. Religion ist so ein wichtiger Punkt, noch immer. Vielleicht würdet ihr euch selber als religiös bezeichnen oder zugeben, dass beispielsweise der Konfirmationsunterricht einen großen Einfluss auf euch ausübte? Möglicherweise verbindet ihr Religiosität mit Aberglauben, den ihr für schädlich haltet? Es kann auch sein, dass euch Religion ganz egal ist. Doch selbst im letzten Fall werdet ihr feststellen, dass ihr immer wieder auf religiöse Menschen und religiöse Fragen stoßt. Das kann sich ganz alltäglich äußern, wenn ihr euch beispielsweise fragt, ob die Dinge, die passieren, Zufall oder Schicksal sind. Vielleicht beschäftigt euch der Sinn des Lebens oder die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt?

Wir Essener Falken sind der Meinung, dass es sehr aufschlussreich und interessant sein kann, sich mit religiösen Antworten auf diese Fragen zu beschäftigen. Eine grundsätzliche Verdammung der Religion finden wir gefährlich und auch ein wenig weltfremd. Natürlich kann mensch Religion beiseiteschieben wie einen Termin, auf den mensch keinen Bock hat. Religiöse Menschen sind oft ein beliebtes Spottobjekt und gelten als ewiggestrig, voreingenommen oder schlicht dumm. Wer diese oder ähnliche Einstellungen teilt, wird in einer Diskussion, in der es um den Umgang mit Religion geht, wahrscheinlich nur sehr einseitige Antworten finden. Zudem dürfte er*sie viele Menschen in seinem *ihrem Umfeld verletzen. Weiter unten werden wir sehen, dass auch ganz weltliche – im Sinne von: nichtreligiöse – Perspektiven Merkmale aufweisen, die Kritiker*innen der Religion gerne vorwerfen. Wir denken hier beispielsweise an Schwarz-Weiß-Denken oder den Anspruch, immer unter allen Umständen rechthaben zu müssen.

 

Religion und Gesellschaft

Der Philosoph Byung-Chul Han, die Polizistin Tania Kambouri und der Publizist Jörg Schindler haben nicht nur sehr unterschiedliche Berufe, sondern auch sehr verschiedene Meinungen (3). Ein Befund eint die Drei jedoch: in der Gesellschaft, in der wir leben, geht der gegenseitige Respekt füreinander immer mehr verloren. Egal, welche Schublade mensch aufzieht, überall kommt einem Hass entgegen. Sei es im Internet, im Straßenverkehr, unter Nachbarn oder in der Politik. Diskussionen verrohen, Mitgefühl gilt als peinlich und ganze TV-Sendungen auf RTL und Co. basieren darauf, Menschen lächerlich zu machen. Im Gegensatz zu Kambouri verbinden Han und Schindler diese Erkenntnis mit Kapitalismuskritik. Auch wir als Essener Falken haben ein grundsätzliches Problem mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, dass die Natur zerstört, soziale Beziehungen zerreißt und die Menschen immer egoistischer macht. Die Probleme, die das gegenwärtige kapitalistische System aufwirft, berühren auch die Religion. Denn Religion bietet für viele Menschen sehr verschiedene Wege, mit dem Kapitalismus (und dem Hass, den er sät) um sie herum besser klarzukommen. Im Kapitalismus werden die Menschen dazu gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Sie lernen, sich selbst als kleines Unternehmen zu sehen, das mehr oder weniger erfolgreich sein kann und andere Menschen (bzw. Mini-Unternehmen) hinter sich lassen muss. Menschen, die sich vor dem Misserfolg fürchten, sich deutlich weniger leisten können als andere oder von Job zu Job hecheln droht der Verlust des Selbstwertgefühls. Oft entwickeln sie auch Hass gegen die Anderen, die als Konkurrent*innen wahrgenommen werden. Religionen haben einen allumfassenden Anspruch. Das heißt, sie gehen über die heutige (kapitalistische) Gesellschaft hinaus und bieten Menschen Sinn auch jenseits dieser Gesellschaft. Menschen identifizieren sich also oft mit religiösen Strömungen. Einerseits, weil sie als Gläubige angesprochen werden – als „die Guten“ – und nicht bloß als Arbeitnehmer*in oder Käufer*in. Andererseits lenkt religiöse Spiritualität von den Widrigkeiten des durchkapitalisierten Alltags ab, eröffnet eine andere Perspektive auf die Dinge. Der Salafismus ist für viele junge Menschen auch deshalb interessant, weil er ein (vermeintliches) Gegengewicht zum kapitalistischen „Westen“ bietet. Zudem gibt er vor, seinen Anhänger*innen Selbstwertgefühl und Handlungsfähigkeit zurückzugeben. Die „Brüder“ und „Schwestern“ untereinander zollen sich jenen Respekt, den sie in der kalten, schnellen und harten Gesellschaft unserer Zeit vermissen. Wir Essener Falken machen uns bewusst, dass religiöser Fanatismus oft eine (falsche) Antwort auf die Herausforderungen des derzeitigen Kapitalismus ist.

 

Religion und Sozialismus

Das Verhältnis zwischen Religion und Sozialismus ist unendlich vielfältig. Frag drei Sozialist*innen, wie sie Religion beurteilen und du bekommst fünf Antworten. Neben fundamentaler Religionskritik fanden sich in der Geschichte der sozialistischen Bewegungen auch immer wieder Versuche, Gemeinsamkeiten zwischen religiösen und linken Perspektiven zu erarbeiten. Viele Linke, die sehr sinnvolle Beiträge zur sozialistischen Ideengeschichte leisteten, waren gleichzeitig religiös oder kamen aus religiösen Elternhäusern. So stammte beispielsweise die linke Publizistin, Politikerin und Pädagogin Anna Siemsen (1882-1951) aus einer protestantischen Familie. Ihr Zeitgenosse Kurt Löwenstein (1885-1939), der sich ebenfalls sehr um sozialistische Pädagogik verdient machte, wollte ursprünglich jüdischer Rabbiner werden. Ein sicherlich prominenteres Beispiel ist Erich Fromm (1900-1980), der in einem jüdischen Haushalt sozialisiert wurde. Fromm versuchte in mehreren Werken, den Humanismus des jungen Karl Marx zu skizzieren (4). Er betonte auch immer wieder, dass Religionsstiftern wie Jesus von Nazareth oder Siddhartha Gautama menschliche Gesellschaften vorschwebten, die den Sozialismus-Vorstellungen späterer Zeiten sehr ähnlich waren (5). Fromm argumentierte, dass Sozialismus und Religiosität nicht grundsätzlich Gegenspieler seien, da ihnen vergleichbare humanistische Annahmen zugrunde lägen.

Wir Essener Falken möchten betonen, in Religiosität nie bloß Gefahr oder Aberglaube, sondern immer auch die Chance auf eine menschlichere Gesellschaft und eine Entwicklungsmöglichkeit für die Menschen zu sehen. Die größte Bedrohung für ein friedliches und von gegenseitigem Respekt geprägtes Zusammenleben geht von einem Kapitalismus aus, der sich immer schneller dreht und immer weniger Rücksicht auf die eigentlichen Grundbedürfnisse der Menschen nimmt (obwohl er ständig neue, künstliche Bedürfnisse schafft).

 

Nichtrassistische Religionskritik

Religion kritisieren wir da, wo sie ein strenges Schwarz-Weiß-Denken predigt, intolerant ist und die Menschen in Freund*innen und Feind*innen unterteilt. Aus der Geschichte vor allem des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass diese Form des Denkens auch von nichtreligiösen Bewegungen vertreten werden kann. Als Essener Falken finden wir, dass grundsätzlich jeder bekannten Religion diese Gefahr innewohnt – nicht alleine „dem“ Islam. Wir denken: Religion, die sich gewaltförmig äußert, lässt sich nicht getrennt von einer kapitalistischen Gesellschaft diskutieren, die viele Menschen zunehmend überfordert. Wir erkennen an, dass vor allem rechte Gruppen den Salafismus und die Terrororganisation IS nutzen, um selbst für eine nationalistische, durchkapitalisierte, sexistische und rassistische Gesellschaft zu werben. Wir hingegen treten religiösen Gruppen, die unsere Freiheit und die menschliche Gleichzeit massiv angreifen, immer kritisch entgegen – egal, ob es sich um islamische oder christliche Strömungen handelt. Dieses Feld wollen wir nicht den Rechten überlassen, die sich auf Kosten gesellschaftlicher Minderheiten in die Schlagzeilen spielen wollen. Wir vermeiden es, alle Menschen aus einer bestimmten Region (z. B. dem muslimisch geprägten Raum) für den IS oder den Salafismus verantwortlich zu machen. Religionskritik wird immer da rassistisch, wo sie sich nur auf eine (uns fremde) Religion bezieht und Menschen willkürlich dieser Religion zuordnet (beispielsweise aufgrund von Äußerlichkeiten). Da wir selbst als Individuen behandelt werden möchten, behandeln wir auch andere als Individuen und nicht nur als Mitglied einer religiösen Gruppe oder Träger*in einer bestimmten Weltanschauung.

 

(1) Facebook-Chronik der Jungen Alternative (JA) für Deutschland NRW, Eintrag vom 22. März 2016 (zuletzt aufgerufen am 23. 4. 2016).

(2) http://waz.m.derwesten.de/dw/region/rhein_ruhr/deshalb-ist-der-salafismus-fuer-jugendliche-so-attraktiv-id11759844.html?service=mobile (zuletzt aufgerufen am 27. 4. 2016)

(3) Vgl. Jörg Schindler, Die Rüpel-Republik. Warum sind wir so unsozial?, Frankfurt am Main 2012.

Vgl. Tania Kambouri, Deutschland im Blaulicht: Notruf einer Polizistin, München 2015.

Byung-Chul Han, Im Schwarm: Ansichten des Digitalen, Berlin 2013.

(4) Erich Fromm, Das Menschenbild bei Marx, Frankfurt am Main 1963.

(5) Erich Fromm, Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Menschen, Weinheim und Basel 1992.