Flüchtlinge

Nur ein Vorgeschmack

Klimakrise(n), Krieg und Kapitalismus
zwingen Menschen zur Flucht

Menschen wandern, seit es sie gibt. Immer schon brachen sie ihre Zelte ab, wenn sie vermuteten, woanders bessere Bedingungen für sich und ihr Umfeld zu finden. Die vielerorts herrschenden schlechten Umstände verstärken diesen Trend. Ende 2015 befanden sich weltweit 63,5 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie nie zuvor (1). Kriege zwischen Staaten oder bürgerkriegsartige Konflikte zwangen im Jahr 2015 12,4 Millionen Menschen zur Flucht. Krisenherde wie Syrien, Afghanistan oder der Irak sorgen dafür, dass von dort Geflüchtete nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Die globale Geflüchteten-Situation spiegelt die weltweite Ungleichheit zwischen reichen und armen Regionen wider: 9 von 10 Geflüchteten leben in Entwicklungsländern. Auch jener Staat, welcher – im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung – weltweit die meisten Geflüchteten beherbergt, zählt zu den krisengeschüttelten: im Libanon kommen auf 1.000 Einwohner*innen 183 Geflüchtete.

Geflüchtete, die aufgrund von Bürgerkriegen 2015/16 nach Deutschland kamen, haben existenzielle Not erfahren, die hierzulande kaum jemand kennt. Sie haben enge Freund*innen und Verwandte verloren, wurden Zeug*innen von Unterdrückung, Folter und Massakern. Zahlreiche Geflüchtete in Deutschland sind traumatisiert, wobei die wenigsten eine Traumatherapie in Anspruch nehmen können (2). Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) und Depressionen zählen zu den häufigsten Krankheitsbildern junger Geflüchteter. Nicht nur ihre gewaltvolle Vergangenheit belastet die Geflüchteten; auch die Gegenwart in Erstaufnahmestellen und Unterkünften stellt eine Herausforderung dar. Rassistische Proteste, überfordertes Personal und interne Konflikte der Bewohner*innen verschärfen zusätzlich die Situation. In Deutschland leben momentan mindestens 18.000 unbegleitete minderjährige Geflüchtete (6) – sie müssen sich ohne die Hilfe von Verwandten in einer für sie fremden Umgebung zurechtfinden.

Die Ursachen für die Kriege, Bürgerkriege und sonstigen Konflikte sind vielfältig. Oft spielen Ressourcenkonflikte eine Rolle, häufig sind Diskriminierungen bestimmter Bevölkerungsgruppen der ausschlaggebende Faktor (3). Viele Regionen wurden von westlichen Akteuren destabilisiert. Ein Beispiel von vielen ist der Irak, in dem – trotz des angeblich für Menschenrechte geführten US-Krieges (2003) – keine funktionierende Demokratie etabliert werden konnte. Auch Klimakatastrophen sind eine erstzunehmende Fluchtursache – die Zahl der Klima-Flüchtenden wird voraussichtlich in Zukunft noch steigen (5). Die vom Klimawandel weniger betroffenen Regionen könnten mit astronomischen Geflüchteten-Zahlen konfrontiert werden. Am Beispiel des auf das kapitalistische Wirtschaftssystem zurückgehenden Klimawandels lässt sich die Verbindung zwischen Ökonomie und Flucht gut aufzeigen. Immer stärker zeichnet sich ab: der in jeden Winkel der Erde vordringende Kapitalismus – für den u. a. dessen Wachstumsimperativ charakteristisch ist – zerstört die Lebensgrundlagen vieler Menschen. Diese migrieren als Klima-Flüchtende in die Zentren der kapitalistischen Welt.

Viele Geflüchtete in Deutschland sind nur ‚geduldet‘. Das bedeutet, ihre Abschiebung wurde vorübergehend ausgesetzt. Geduldete dürfen grundsätzlich nicht arbeiten, höchstens in Ausnahmefällen. Sie können deshalb nicht für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen und sind von Zuwendungen abhängig. Abschiebungen haben zum Ziel, mittels Zwang Eingewanderte in ihr Herkunftsland oder in ein sogenanntes Drittland zu bringen. Sowohl der Duldungsstatus als auch eine angedrohte Abschiebung bedeuten für die Betroffenen eine enorme psychische Belastung.

 

Aufgabe(n) der Zivilgesellschaft und des linken Spektrums

Die Perspektive der Zivilgesellschaft muss es sein, kritische Solidarität mit den Geflüchteten zu leisten. Auch die Falken und andere linke Organisationen setzen sich nachdrücklich für die Eingewanderten ein – unser Engagement ist jedoch mehr als das karitative Bereitstellen alter Klamotten (obwohl auch das wichtig und richtig ist). Echte Solidarität ist immer kritisch – nicht nur in der gegenwärtigen Situation. Wenn ich jemanden wirklich respektiere, spare ich nicht mit Kritik. Zwei Studien, die sich mit der Einstellung von Geflüchteten beschäftigten, kamen zu dem Schluss: viele Neubürger*innen sind eher konservativ, was ihre Einstellung zur sexuellen Vielfalt und zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen angeht (4). Einige der Befragten befürworteten autoritäre Gesellschaftsmodelle. Von vielen Linken werden diese Fakten wegrelativiert, verdrängt oder als Rassismus gebrandmarkt. Wer das tut, muss sich nicht wundern, wenn viele Wähler*innen (fälschlicherweise!) in der AfD jene Partei sehen, die sich der Sorgen der Menschen annimmt.

Selbstverständlich gehört es auch zur Aufgabe der Zivilgesellschaft (und insbesondere des linken Spektrums), Rassismus – auch in seiner moderneren, kulturalistischen Ausdrucksform – zurückzuweisen. Eines der besten Mittel gegen die kulturalistisch-rassistischen Argumentation der AfD ist Versachlichung und Differenzierung. Wie keine andere Partei profitiert die AfD von der schrillen Tonlage der Geflüchteten-Debatte. Die AfD polarisiert, provoziert und emotionalisiert, um aus den Ängsten der Menschen Wahlerfolge zu machen. Auch wenn der harte Kern der Rassist*innen für vernünftige Argumente oft nicht zugänglich ist: die Zivilgesellschaft und das linke Spektrum müssen darum kämpfen, Debatten sachlich führen zu können. Eine weitere Verrohung des gesellschaftlichen Klimas kann nur den Rechten und ihren Gewalt- und Ungleichheitsideologien nutzen. Die AfD geht mit ihrer rassistischen Panikmache über die Leichen derjenigen, die in Geflüchteten-Unterkünften leben. Dass bei den zahlreichen Brandanschlägen 2015/16 noch kein Geflüchteter ums Leben kam, ist pures Glück. Die Täter*innen werfen oft Brandsätze in die Gebäude, einen qualvollen Tod der Bewohner*innen in Kauf nehmend – nicht immer werden die Angreifer*innen gefasst und verurteilt, wie es beispielsweise in Salzhemmendorf (bei Hameln) geschah. Dort hatten sich zwei Männer und eine Frau an der Tat beteiligt (7). Sie gaben an, alkoholisiert gewesen zu sein und – vor der Tat – Rechtsrock gehört zu haben. Sie warfen den Brandsatz in die Wohnung einer 34-jährigen Frau aus Simbabwe, die dort mit ihren drei Kindern lebte. Der Brandsatz landete im Zimmer des elfjährigen Sohnes, der sich – glücklicherweise – zu diesem Zeitpunkt nicht dort aufhielt. Zur körperlichen Gewalt vor Ort gesellt sich die Menschenverachtung in den ‚sozialen‘ Netzwerken (Facebook und Co.). Beide Formen der Gewalt – körperliche und verbale – nähren einander, eine klare Trennung ist in der gegenwärtigen Situation kaum mehr möglich.

Die Geflüchteten als Individuen und gleichzeitig als Menschen mit uns unbekannten Erfahrungen wahrzunehmen, ist eine Gradwanderung. In unserer Mensch-Kampagne geht es (auch) darum, das Verbindende zwischen den Menschen in den Vordergrund zu rücken. So unterschiedlich die Geflüchteten auch sind: sie teilen menschliche Grundbedürfnisse, sei es der Wunsch, sich sattessen zu können oder die Hoffnung, die eigene Familie in einer sicheren Umgebung aufwachsen zu lassen. Aufgabe der Zivilgesellschaft und des linken Spektrums ist es auch, bei aller Andersartigkeits-Rhetorik von rechts das Universelle des Menschseins zu betonen.

 

(Selbst-)Reflexion hilft

Geflüchtete erfordern ‚westliche‘ Selbstreflexion: welche Stärken hat diese Gesellschaft, die – bei aller Kritik – auch Ausdruck des historisch erkämpften Fortschrittes ist, der sich in Freiheitsrechten und Rechtsstaatlichkeit äußert? In den bereits erwähnten Umfragen äußerten viele Geflüchtete, an Deutschland die Orientierung an Menschenrechten, Freiheit und Sicherheit zu schätzen (4). Nichts bringt dies besser zum Ausdruck als eine Gruppe tanzender homosexueller Männer im Dortmunder Westpark, denen mensch ansehen konnte, wie wenig selbstverständlich das Ausleben von (sexueller) Freiheit und Freizügigkeit in anderen Weltregionen ist. Wer Menschen, die aus völlig anderen Verhältnissen kommen, begegnet, braucht einen eigenen, gut begründbaren Standpunkt. Verständigung ist nur möglich, wenn ich selbst irgendwo stehe und mein*e Gesprächspartner*in weiß, mit wem er*sie es zu tun hat. Für Menschen, die lieber Phrasen dreschen und/oder anderen nachplappern ist es schwierig, einen solchen eigenen Standpunkt zu finden. Es gibt im linken und auch im (neu-)rechten Spektrum Menschen, die alles Schlechte auf ‚den Westen‘ projizieren. Dieser erscheint dann entweder als purer Kapitalismus oder als eine im Verfall begriffene Vergnügungsanstalt, der alle Werte und Normen abhandengekommen seien. Einige Linke neigen dazu, in nichtwestlichen Menschen pauschal die ‚Verdammten dieser Erde‘ – sprich: Opfer – zu sehen. Antiwestliche Rechte favorisieren Putin und Alexander Dugin, von einem faschistischen eurasischen Reich träumend. Während viele Linke die Geflüchteten als reine Funktion des globalen Kapitalismus sehen und ihnen damit absprechen, Individuen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven zu sein, nimmt die politische Rechte Geflüchtete als böswillige Eindringlinge wahr, betrachtet deren Einwanderung gar als Teil eines muslimisch-christlichen Kulturkampfes. Undifferenzierte Denkweisen dieser Art sind in der Geflüchteten-Debatte fehl am Platz. Nur wer die Widersprüche und Gefahren, aber auch die Chancen dieser Gesellschaft einschätzen kann, vermag es, geflüchteten Menschen – die sich hier zurechtfinden wollen – langfristig zu helfen.

Auf dem vorläufigen Höhepunkt der Geflüchteten-Immigration beteuerte Angela Merkel: „Wir schaffen das.“ Mit Blick auf die Fluchtbewegungen der Zukunft, den gewaltigen Rechtsruck in Europa und den USA und ein verrohtes, von Hass geprägtes gesellschaftspolitisches Klima muss Merkels Ausspruch längst als Frage formuliert werden: „Schaffen wir das?“ Das ‚Wir‘ kann dabei nicht auf ein nationales Kollektiv (‚Wir Deutsche‘) beschränkt bleiben. Die Krisen der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft sind miteinander verknüpft. Insbesondere die Klima-Krise könnte sich weiter auswachsen, Menschen ins Elend stürzen und zur Flucht zwingen. Gut möglich, dass die heutigen Probleme nur ein Vorgeschmack auf das sind, was kommt. Abschottungsstrategien im Stile einer ‚Festung Europa‘ sind jedoch keine Lösung.

[autoritären Gesellschaftsmodelle, die]: Gesellschaften, in denen die Mächtigen die Spielregeln für alle vorgeben: Individualität ist nicht gerne gesehen, Anpassung und Gehorsam werden verlangt. Gesellschaften dieser Art können religiös reglementiert sein (z. B. islamistischer Gottesstaat) oder politisch (z. B. Faschismus, Stalinismus).

[Gewalt- und Ungleichheitsideologien, die]: Ideologien sind von Menschen entwickelte Gedankengebäude, die die Gesellschaft erklären wollen und/oder vorgeben, dies zu können. Ideologien werden oft genutzt, um Herrschaftsverhältnisse zwischen Menschen und Ungleichheit zu rechtfertigen. Ideologien spiegeln oft die Interessen derer wider, die sie sich ausgedacht haben bzw. die sie vertreten. Es gibt Ideologien (z. B. faschistische), die auf der Idealisierung von Gewalt und Ungleichheit beruhen.

 

(1) https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html (aufgerufen am 12. September 2016)

(2) http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/psychisches-leid-von-fluechtlingen-trauma-und-kaum-therapie-a-1035564.html (aufgerufen am 12. September 2016)

(3) http://www.bmz.de/de/themen/Sonderinitiative-Fluchtursachen-bekaempfen-Fluechtlinge-reintegrieren/deutsche_politik/index.jsp (aufgerufen am 12. September 2016)

(4) http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-08/studie-politische-einstellung-fluechtlinge-berlin-umfrage-werte (aufgerufen am 12. September 2016)

(5) https://www.greenpeace.de/themen/klimawandel/folgen-des-klimawandels/studie-klimafluechtlinge-die-verleugnete-katastrophe (aufgerufen am 12. September 2016)

(6) http://www.tagesschau.de/inland/unbegleitete-fluechtlinge-103.html (aufgerufen am 2. Oktober 2016)

(7) http://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Brandanschlag-Salzhemmendorf-Angeklagte-gestehen,salzhemmendorf182.html (aufgerufen am 2. Oktober 2016)