Vorurteile

Vorurteile als politisches Instrument

In Zeiten der abnehmenden Gleichwertigkeit

Wer sich mit Feindseligkeiten zwischen Gruppen und Machtkämpfen innerhalb einer Gesellschaft auseinandersetzt, wird am Begriff des Vorurteils nicht vorbeikommen. Der Psychologe Gordon Allport beschäftigte sich in einem der weltweit bekanntesten Sozialpsychologiebücher mit dem Phänomen – The Nature of Prejudice (dt. Die Natur des Vorurteils). Dort definiert Allport: „Ein ethnisches Vorurteil ist eine Antipathie, die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründet. Sie kann ausgedrückt oder auch nur gefühlt werden. Sie kann sich gegen eine ganze Gruppe oder gegen ein Individuum richten, weil es Mitglied einer solchen Gruppe ist“ (1).

Vorurteile beziehen sich also immer irgendwie auf Gruppen; sie schließen von den vermeintlichen Eigenschaften aller Gruppenmitglieder auf die Einzelnen, die der Gruppe zugerechnet werden. Allport ergänzend lässt sich feststellen, dass die tatsächliche Existenz der jeweiligen Gruppe zweitrangig ist. Vorurteile werden auch dann wirksam, wenn die Gruppe, um die es geht, nur eine eingebildete ist. Die Menschen, die vom Vorurteilenden der Gruppe zugeordnet werden, müssen mit den Konsequenzen ihrer vermeintlichen Gruppenzugehörigkeit leben bzw. sterben. Das in seinem Schrecken einzigartige Beispiel hierfür ist die Shoah – der Versuch der Nazis, alle als ‚Juden‘ markierten Menschen in ihrem Machtbereich zu töten. Die Menschen, welche die Nazis als ‚Juden‘ ansprachen, teilten keine gemeinsamen Charaktereigenschaften – zu keinem Zeitpunkt. ‚Die Juden‘ als weltweit und im Geheimen agierende Gruppe, die anderen schaden will, war (und ist) ein Konstrukt des Antisemitismus. Das Menschheitsverbrechen der Nazis wäre ohne fest verankerte Vorurteile in der Bevölkerung – gegenüber ‚den Juden‘ – nicht möglich gewesen. Die NS-Propaganda konnte nur funktionieren, weil sie an das vorurteilsbehaftete Denken vieler Zeitgenoss*innen anknüpfte.

 

Vorurteile bei den Einzelnen

Vorurteile bei einzelnen Menschen haben viel mit deren Denkstil zu tun; wer andere zuallererst als Individuen wahrnimmt, wird weniger auf Vorurteile zurückgreifen müssen. Wer andere Menschen eher als Mitglieder verschiedener Gruppen versteht, urteilt eher vorurteilsbeladen. Vorurteile können jedoch nicht als individuelle Schwäche einzelner Personen behandelt werden, die einfach zu wenig nachdenken. Stattdessen sind Vorurteile ein unverzichtbarer Bestandteil sozialer Ungleichwertigkeit und bestimmter Machtverhältnisse, die in einer Gesellschaft herrschen. Deshalb werden Vorurteile v. a. von politisch Rechten auch immer wieder reproduziert – wir werden weiter unten darauf zurückkommen.

Wir alle haben Vorurteile. Oft beziehen wir diese auf Berufe und bestimmte Milieus, nicht immer geht es um ethnische Gruppen. Nicht jede*r spricht seine Vorurteile ständig aus und – was noch wichtiger ist – nicht jeder instrumentalisiert sie (dazu unten mehr). Vorurteile können sogar – grundsätzlich – wohlwollend sein: wir finden ‚die Italiener‘ netter und kommunikativer als ‚die Deutschen‘ oder gehen davon aus, dass ‚Wissenschaftler*innen‘ nur kluge Sachen von sich geben. Leider sind Positiv- und Negativ-Vorurteile zwei Seiten derselben Medaille. Denn wenn die Mitglieder einer bestimmten Gruppe grundsätzlich toll sein sollen, kann es genauso gut sein, dass Menschen, die einer anderen Gruppe zugeordnet werden, alle (angeblich) blöd sind. Wir haben Vorurteile, weil wir uns in einer komplizierten und unübersichtlichen Welt zurechtfinden wollen. Wir müssen uns im Alltag orientierten, wollen wissen, wem wir trauen können und wem nicht, wer uns gegenüber (mutmaßlich) ‚gut‘ oder ‚böse‘ eingestellt ist. Entscheidend ist also nicht, ob jemand Vorurteile hat (wir haben sie alle), sondern, wie jemand mit ihnen umgeht. Bin ich bereit, meine gruppenbezogenen Vorurteile zu hinterfragen, bin ich offen für neue, widersprüchliche Erfahrungen? Konzentriere ich mich eher auf die Individualität der Menschen oder auf ihre Gruppenzugehörigkeiten?

 

Vorurteile und ausgrenzende Ideologien

Vorurteile sind ein Baustein für Ausgrenzungen bestimmter Gruppen. Sie sind ein unverzichtbares Element des Erfolges verschiedener Ideologien. Dies gilt auch für Positiv-Vorurteile, die mensch gegenüber seiner eigenen Gruppe pflegt. Wenn beispielsweise jemand, der sich als ‚deutsch‘ versteht, von ‚Deutschen‘ denkt, sie seien fleißiger, ehrlicher und klüger als andere, ist es zum Nationalismus nicht mehr weit. Meistens werden Vorurteile und die Ideologien, die auf sie zurückgreifen, benutzt, um soziale Ungleichwertigkeit zu rechtfertigen. Diesem Zusammenhang widmet sich die Buchreihe Deutsche Zustände (2). Die Wissenschaftler*innen um Wilhelm Heitmeyer befassten sich zehn Jahre lang u. a. mit der folgenden Frage: welche Rolle spielen Vorurteile gegenüber Minderheiten in einer Gesellschaft, die (zunehmend) von sozialer Ungleichwertigkeit geprägt ist? Die Forscher*innen beschrieben das Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMS). Sie fanden heraus, dass negative, auf Vorurteilen basierende Abwertungen verschiedener Gruppen miteinander zusammenhängen; ähnliche Ursachen sind es, die bestimmte Menschen dazu bringen, als ‚fremd‘ markierte Andere abzulehnen und gleichzeitig Vorteile für die Etablierten (Alteingesessenen) zu fordern. Zu den häufigen Ursachen zählt die hohe Dominanzorientierung der Ausgrenzenden – die Vorstellung also, dass es immer ein ‚Oben‘ und ein ‚Unten‘ geben muss. Heitmeyer und Co. belegen: der Abbau des Sozialstaats und die Krisen des gegenwärtigen Kapitalismus verstärken die Tendenz vieler Menschen, andere abzuwerten, um Orientierung herstellen zu können. Die zahlreichen Attacken auf Geflüchtete zeigen: aus vorurteilsbeladenen Einstellungen werden Taten. Auch deshalb ist es immer gefährlicher, wenn eine gesellschaftsweit mächtigere Gruppe (z. B. wohlhabende Deutsche) Vorurteile gegenüber einer benachteiligten Gruppe (z. B. Geflüchtete) hegt. Der umgekehrte Fall – einzelne Geflüchtete lehnen ‚Deutsche‘ ab – ist zwar nicht wünschenswert, aufgrund der ungleichen Machtverhältnisse jedoch weniger gefährlich für das Klima in einer Gesellschaft. Aus diesem Grund ist die von Rechten geäußerte Klage über ‚umgekehrten Rassismus‘ – Geflüchtete beschimpfen ‚Deutsche‘ – so verlogen. Dieser Vorwurf basiert auf einem schiefen Vergleich zwischen zwei Ausgrenzungsformen, die grundverschieden sind. Im einen Fall verachten Bevorteilte die Benachteiligten, um ihre bessere Stellung in der gesellschaftlichen Hackordnung zu verteidigen. Im zweiten Fall reagieren Benachteiligte auf den Hass der Bevorteilten und die allgemeine Ungleichwertigkeit. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: keiner der beiden Fälle ist begrüßenswert. Beide Formen der Ausgrenzung fußen auf gruppenbezogenem Denken und leisten gewalttätigen Auseinandersetzungen Vorschub.

 

Vorurteile werden Politik

Wer Vorurteile politisch instrumentalisiert, möchte meistens bestehende Machtverhältnisse erhalten – also z. B. dafür sorgen, dass Reiche reich bleiben, ‚Deutsche‘ bevorzugt werden und Armen die Schuld an ihrer Situation gegeben wird. Machtverhältnis heißt nicht nur ‚A befiehlt B, was B zu tun hat‘, sondern auch ‚A definiert und B orientiert sich an As Definition‘. Machtverhältnisse stützen sich also auch auf Definitionsmacht: wer bestimmt, was als ‚normal‘, ‚gut‘ und ‚richtig‘ gilt? Wer kann wen schief angucken, wer wird (durch wen) als ‚abweichend‘ markiert? Wem kommen Vorrechte zu, wer wird benachteiligt? Wir leben in einer Zeit, in der die politische Rechte (AfD, Pegida usw.) versucht, die Definitionsmacht in der Gesellschaft an sich zu reißen. Das selbsternannte ‚Volk‘ auf Pegida- und AfD-Demonstrationen möchte bestimmen, wer ausgegrenzt werden soll und wer unbehelligt und in Wohlstand leben darf. Der rechten Propaganda liegt die Betonung der menschlichen Ungleichwertigkeit zugrunde.

Allport beschrieb Vorurteile als Antipathie und ergänzte: „Sie kann ausgedrückt oder auch nur gefühlt werden.“ ‚Gefühlt‘ ist ein wichtiges Stichwort, denn: Vorurteile sind eng verflochten mit der Emotionalisierung der Politik. Dieses Geschäft betreiben v. a. die AfD und die rechte Bewegung, deren parlamentarischer Arm die Partei ist. Die Propaganda von AfD, Pegida und Co. basiert nicht auf Fakten, sondern auf Gefühlen. Dass JournalistInnen dauernd bewusst die Unwahrheit sagen (‚Lügenpresse‘) lässt sich nicht belegen, entspricht aber dem gefühlten Eindruck vieler Menschen. Das Vorurteil des lügenden Reporters entfaltet also Wirksamkeit, gerade weil mensch es nicht beweisen kann. Gleiches gilt für den AfD-Vorwurf, die Vertreter*innen der etablierten Parteien bildeten ein Kartell, steckten also alle irgendwie unter einer Decke. Das Vorurteil gegenüber Politiker*innen, sich untereinander nicht zu unterscheiden und das ‚Volk‘ nur ausnutzen zu wollen, wird niemand mit Argumenten erhärten können. Aus AfD-Sicht ist das nicht schlimm: die gefühlte ‚Wahrheit‘ der gleichgeschalteten Bundestagsabgeordneten wiegelt die rechten Protestierenden auf und sorgt dafür, dass diese ihr Kreuz bei der AfD machen. Am AfD-Erfolg lässt sich auch ablesen, wie bereitwillig viele Menschen vorurteilsgeprägte Propaganda aufnehmen – in einer immer komplizierteren Welt kommen Sündenbock-‚Argumentationen‘ gut an. Wenn mensch schon nichts mehr versteht, weiß mensch wenigstens, wer (angeblich) schuld ist. Pegida- und AfD-Anhänger*innen als unreflektierte Dumpfbacken hinzustellen ist jedoch grundverkehrt. Insbesondere die AfD-Strategie – Ausnutzen von Vorurteilsstrukturen und Gefühlen – zeigt: hier sind Polit-Profis am Werk, die genau wissen, welche Hebel bedient werden müssen, um Erfolge an den Wahlurnen einzufahren und Definitionsmacht zu erlangen.

 

Gegenstrategien

Menschen, die Vorurteile in Politik übersetzen, sind nicht alle gleich. Einige werden von Abstiegsängsten geplagt (oder sind bereits arm) und wünschen sich Gruppen, auf die sie verachtungsvoll herabschauen können – hier geht es darum, das eigene Selbstwertgefühl auf Kosten anderer wahren zu können. Andere sind reich und setzen Vorurteile ein, um ihren Wohlstand gegen Geflüchtete oder die Armen im Allgemeinen zu verteidigen. Arme werden als grundsätzlich faul, dumm oder antriebslos gezeichnet. Beide auf Vorurteile zurückgreifende Gruppen eint, dass sie personalisierte Sündenböcke brauchen. Dies ist v. a. für die reichen Vorurteilenden wichtig, die dafür sorgen müssen, dass sich die armen Vorurteilenden nicht irgendwann gegen sie wenden. Einfacher ausgedrückt: der*die reiche Deutsche muss es schaffen, dass der*die arme Deutsche nicht aufmuckt. Deshalb bietet der*die reiche Deutsche dem*der armen Deutschen Geflüchtete, Journalist*innen und Politiker*innen als gemeinsames Feindbild an.

Wer Vorurteile und ihre Folgen bekämpfen will, muss Personalisierungen dieser Art benennen. Kritik muss an Verhältnissen und nicht an Personen geübt werden, auch wenn das kompliziert ist. Wie entsteht eigentlich die soziale Ungleichwertigkeit, an der so viele leiden und die so viele Menschen verunsichert? Die Zivilgesellschaft und die politische Linke müssen Debatten möglichst sachlich führen und vermeiden, bestimmte Personengruppen als Schuldige hinzustellen. Jede karikierende Personalisierung (‚Der gierige Banker‘, ‚Die korrupte Politikerin‘, aber auch: ‚Der dumme Rechte‘) nährt vorurteilsbehaftetes Denken und die Ausgrenzungen, die mit diesem einhergehen. Kritik muss systemisch sein und benennen, was in den Strukturen dieser Gesellschaft falsch läuft. Dies schließt ein, dass Personen, die von Ungleichwertigkeit profitieren und diese erhalten wollen, benannt werden – dies ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Analyse. Dies geschieht nicht, um diese Personen herabzuwürdigen, sondern, um die Verhältnisse zu hinterfragen, die Vorteile und Nachteile für bestimmte Gruppen produzieren. Anders gesagt: linker Kritik darf es nicht in erster Linie um Sündenböcke, sondern muss es um die Strukturen gehen. Die Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft sorgen dafür, dass es bevorteilte und benachteiligte Gruppen gibt, die für ihre jeweiligen Interessen kämpfen (und dabei auch auf Vorurteile ‚den anderen‘ gegenüber zurückgreifen).

Es wird wahrscheinlich immer Menschen geben, die gruppenbezogen denken, ihre Vorurteile nicht reflektieren wollen und lieber Personen als Strukturen kritisieren. Trotzdem müssen wir mit jedem*jeder so sprechen, als wäre er*sie in der Lage, die Strukturen zu hinterfragen. Jeder einzelne Mensch, der sich daraufhin an einer tiefschürfenden Gesellschaftskritik versucht, ist die Mühe wert.

 

[Ethnie, die]: Ethnie ist ein sehr schwieriger Begriff. Stark vereinfacht ausgedrückt, meint Ethnie eine Menschengruppe, innerhalb derer ähnliche kulturelle Formen zu beobachten sind.

[Antipathie, die]: Antipathie ist ein anderes Wort für Abneigung oder Widerwille gegenüber einem anderen Menschen oder einer bestimmten Gruppe.

[Antisemitismus, der]:
Antisemitismus ist ein kompliziertes Phänomen, das mensch nicht in drei Sätzen erklären kann. Vereinfacht ausgedrückt: Antisemit*innen denken, ‚die Juden‘ als Gruppe würden die politischen Geschehnisse weltweit zu ihren Gunsten manipulieren. ‚Den Juden‘ wird zugeschrieben, bestimmte negative Eigenschaften miteinander zu teilen und den ‚alteingesessenen‘ Bevölkerungsteilen schaden zu wollen. ‚Die Juden‘ fungieren als Projektionsfläche für die Abneigungen der antisemitisch Eingestellten.

[Ungleichwertigkeit, die]:
In diesem Zusammenhang bedeutet Ungleichwertigkeit, wenn bestimmte Gruppen von Menschen als weniger wertvoll (verglichen mit anderen) eingeschätzt werden. Dass A weniger als B gilt, hängt mit den vorherrschenden Ideologien in einer Gesellschaft zusammen. Wenn beispielsweise leistungsideologische Vorstellungen dominieren, werden Menschen als weniger wertvoll erachtet, wenn sie als leistungsschwach gelten. Die Ungleichwertigkeit wird in zwischenmenschlichen Situationen reproduziert.

[Karikatur, die]: Eine Karikatur ist eigentlich eine Zeichnung, die jemanden oder etwas satirisch darstellt, indem bestimmte Eigenschaften der Person oder Sachen hervorgehoben werden. Im übertragenen Sinne bedeutet Karikatur ‚Zerrbild‘ oder ‚Spottbild‘.

 

(1) Allport, Gordon W. (1971). Die Natur des Vorurteils, Köln: Kiepenheuer & Witsch.

(2) Heitmeyer, Wilhelm et al. (2002-2011). Deutsche Zustände, Folgen 1-10, Frankfurt am Main: Suhrkamp.